Quo vadis, Euro(pa)?

Hendrik Mäkeler et Heike Minich: Quo vadis, Euro(pa)? (Uppsala University Coin Cabinet Working Papers, 3), Uppsala 2011.

Version abrégée: Ökonomenstimme.

Texte

Der französische Finanz- und Währungspolitiker Jacques Rueff hat einmal gesagt, dass Europa über das Geld möglich werde – oder gar nicht. Die Frage nach Sein oder Nichtsein stellt sich auch auf dem EU-Krisengipfel im März, bei dem über die Pläne Nicolas Sarkozys und Angela Merkels für einen wahlweise „europäische Wirtschaftsregierung“ oder „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ genannten Lösungsansatz für die europäische Finanzkrise entschieden werden soll.

Der Maßnahmenkatalog, der zur Diskussion steht, wirkt auf manchen improvisiert, wie etwa der belgische Außenminister Steven Vanackere kritisierte. Durch den Rückzug Axel Webers ist der Eindruck, dass die Politik sich in diesem Bereich auf unsicherem Boden bewegt, zusätzlich verstärkt worden. Es gibt also Gründe genug, um einen ausführlicheren Blick auf die Hintergründe von zwei Hauptproblemen der Krise in Europa zu werfen.

Dabei handelt es sich erstens um die starke, teils überstarke Verschuldung der europäischen Staaten. Hohe Staatsschulden stehen aber dem Ziel einer niedrigen Inflationsrate entgegen. Für diese zu sorgen, ist die Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB). Deren politisch motivierte Entscheidung zum großangelegten Kauf von Staatsanleihen zweifelhafter Bonität macht ihr die strikte Begrenzung der Inflation nicht leichter, da dadurch die Rückzahlung der Anleihen gefährdet werden könnte.

Vor allem aber wird dadurch ein Agieren der Zentralbank in solchen Fällen unwahrscheinlich, in denen sich eine wachsende Inflation lediglich durch eine steigende Inflationsrate in einzelnen Ländern des Euroraums andeutet, wie dies aktuell in Deutschland der Fall ist. Man spricht dabei von Binneninflation, womit das zweite Hauptproblem in Europa angesprochen ist. Der aus diesen beiden Stricken gedrehte gordische Knoten hält die europäische Finanzpolitik gefangen und lässt sich nicht leicht durchschlagen.

Wendet man sich zunächst dem Problem der Staatsschulden zu, bringt bereits ein Blick in ein geographisches Handbuch erstaunliche Erkenntnisse. Ihm ist folgendes Urteil über Griechenland zu entnehmen: „Die Finanzen des Staates befanden sich infolge der gänzlichen Zerrüttung des Landes von vornherein in sehr ungünstiger Lage. Dieselbe hat sich eigentlich von Jahr zu Jahr verschlimmert, teils weil ein großer Teil der Steuern uneinbringlich bleibt, und teils infolge der kriegerischen Rüstungen.“ Wer bei der Lektüre dieser Zeilen glauben sollte, es handle sich um ein aktuelles Werk, worin die wirtschaftliche Lage seit der Einführung des Euro behandelt wird, sieht sich allerdings gründlich getäuscht: Vor dem Leser liegt ein Werk aus dem Jahr 1882, ein Begleitband zu „Andrees Handatlas“, dem lange Zeit umfassendsten geographischen Atlas der Welt.

Zu Italien heißt es an gleicher Stelle: „Die politischen Umgestaltungen und eine schlechte Finanzverwaltung haben dem Lande große finanzielle Lasten auferlegt. […] Die Staatsschulden Italiens sind zu einer riesigen Höhe angeschwollen.“ Eigentlich will man da schon gar nicht mehr wissen, was über Portugal zu lesen steht. Doch ist das Urteil dort überraschend milde; lediglich von einer „stetig gewachsenen“ Staatsschuld ist die Rede. Und Irland? Irland war zu jener Zeit noch in Personalunion mit Großbritannien verbunden, so dass dem Land eine eigenständige Bewertung erspart blieb…

Diese höchst aktuell wirkenden Angaben von 1882 stellen ein Indiz dafür dar, dass die heutigen finanzpolitischen Probleme des Euroraumes in eine tiefere geschichtliche Perspektive gerückt werden sollten. Die Zusammenhänge, in denen das Problemfeld steht, werden für den Betrachter dabei immer umfassender sichtbar, je ferner der historische Spiegel rückt.

Einen ersten solchen historischen Spiegel stellt man sinnvollerweise im 20. Jahrhundert auf, so wie es Bernhard Löffler mit dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Die kulturelle Seite der Währung“ unlängst getan hat. Ausgehend von der Feststellung, dass die Existenz oder die Schaffung einer Stabilitätskultur unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg einer modernen Papiergeldwährung ist, werden in dem Buch unter anderem Deutschland und Frankreich, die Schweiz und Schweden miteinander kontrastiert und auf die Formen hin abgeklopft, die sich bei den jeweiligen Geldkulturen erkennen lassen.

Deutschland und die Schweiz standen mit ihrer stabilitätsorientierten Kultur dabei in einem krassen Gegensatz zu Frankreich und Schweden, wo die Wertstabilität der eigenen Währung zumindest über weite Teile des 20. Jahrhunderts politischen Zielen untergeordnet wurde: der künstlichen Verminderung der Arbeitslosigkeit und dem Ausbau des „skandinavischen Modells“ etwa. Langfristig war die inflationistische Politik nicht zielführend; ihre Grundzüge verblieben allerdings im kollektiven Gedächtnis der Bürger der betroffenen Länder, ebenso wie die Stabilität der D-Mark im Gedächtnis der Bundesbürger verankert ist. Diese kulturellen Unterschiede resultieren nun in der französischen Vorstellung, die aktuellen Probleme könnten allein durch den politischen Beschluss einer europäischen Wirtschaftsregierung gelöst werden, während die Rhetorik der deutschen Seite auf einen „Pakt“ und damit wohl eher auf das gemeinschaftliche Handeln aller Marktteilnehmer abzielt.

Vor dem Hintergrund derart unterschiedlicher Einstellungen zum Geld verwundert es wenig, dass inzwischen relativ starke Unterschiede zwischen den Inflationsraten der einzelnen Länder existieren, die der Europäischen Währungsunion angehören. Der Euro ist somit von einer nicht unbeträchtlichen Binneninflation betroffen, dem zweiten Hauptproblem der europäischen Finanzpolitik.

Inflationsunterschiede im Euroraum resultieren aus realen, bilateralen Wechselkursunterschieden zwischen den Euroländern. Für Inflationsdifferenzen in einem Währungsraum gibt es verschiedene Ursachen: Zum einen resultiert Binneninflation aus unterschiedlichen konjunkturellen Positionen der Mitgliedsländer. Ein Grund für diese unterschiedlichen Positionen war in den letzten zehn Jahren auch die unausgeglichene Haushaltspolitik einzelner Euroländer. Die Inflationsniveaus sind zum anderen zudem durch relativ starre Güter- und Arbeitsmärkte, das heißt durch strukturelle Unterschiede zwischen den Euroländern, auseinander gelaufen. Je starrer beispielsweise die Güter- und Arbeitsmärkte, desto höher der Kostendruck, desto stärker werden damit auch die nationalen Inflationsniveaus tangiert, Inflationsdifferenzen sind die Folge.

Zwar entfällt für die Euroländer der nominale Wechselkurs, der reale Wechselkurs bleibt aber weiterhin bestehen. Inflationsdifferenzen gab und gibt es nicht nur zwischen einzelnen Staaten, sondern etwa auch zwischen den einzelnen Bundesländern in Deutschland. Im letzteren Fall betragen die Abweichungen bis zu einem Prozentpunkt, so dass Deutschland einen relativ homogenen Währungsraum bildet.

Grundsätzlich geben somit konjunkturell bedingte Inflationsdifferenzen im Euroraum keinen Anlass zur Sorge, solange sie nicht zu hoch ausfallen oder einzelne Länder des Euroraums dauerhaft als Hoch- oder Niedriginflationsländer charakterisiert werden müssen. Konjunkturell bedingte Inflationsdifferenzen sind vielmehr Teil eines Anpassungsmechanismus, der sich am einfachsten anhand einer auf zwei Länder beschränkten Darstellung erklären lässt.

Wenn beispielsweise in Deutschland die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigt, so ist dies bei einem etwa gleichbleibenden Warenangebot mit einer positiven Inflationsrate verbunden. Sinkt zeitgleich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in Irland, so resultiert das in sinkender irischer Inflation. Folglich entstehen Inflationsdifferenzen als Spiegelbild unterschiedlicher konjunktureller Positionen, bei einem gegebenen, unionsweiten Nominalzins.

Der Anpassungsmechanismus funktioniert dann wie folgt: Über die steigende Inflationsrate in Deutschland werden die Güter des Landes im Vergleich zu Irland relativ teurer. Die Nachfrage nach Gütern aus Deutschland sinkt unionsweit, während die Nachfrage von Gütern aus Irland unionsweit steigt. Im Zuge der Nachfrageänderungen passen sich auch die länderspezifischen Inflationsraten an, mit der Folge, dass über den sogenannten ‚Wettbewerbskanal‘ ein Ausgleich der Inflationsentwicklungen erfolgt, ohne dass ein geldpolitisches Eingreifen notwendig würde.

Damit wäre eigentlich alles wieder ins Lot gebracht, wenn diesem ‚Anpassungskanal‘ nicht ein prozyklischer ‚Realzinskanal‘ entgegenwirkte. Da beide Länder einem einzigen Währungsraum angehören, gilt für sie ein einheitlicher Nominalzins, der von der gemeinsamen Zentralbank festgesetzt wird. Aus den unterschiedlichen Inflationsraten resultiert für das Land mit höherer Inflation ein niedriger Realzins, für das Land mit niedrigerer ein hoher Realzins. Dies hat zur Folge, dass Investitionsprojekte in ersterem Land günstiger sind als in letzterem, die Nachfrage nach Investitionsprojekten bei diesem Beispiel in Deutschland also erneut stiege, während die Nachfrage nach Investitionsprojekten in Irland weiter sänke. Die unterschiedliche konjunkturelle Position wird auf diese Weise verstärkt; die Glieder des in der Ausbildung begriffenen gemeinsamen europäischen Körpers driften auseinander. Diese gegenläufigen Kanäle können u. a. erklären, weshalb im Euroraum Inflationsunterschiede bestehen.

Ob es sich nun um Inflation oder Binneninflation handelt, es trifft doch in jedem Fall Wilhelm Röpkes Diktum zu, „daß die Inflation das größte ökonomische Übel ist, das eine Volkswirtschaft treffen kann, und daß es demnach die Pflicht jedes Finanzministers ist, sein Land vor diesem Übel zu bewahren“.

Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen gilt es der Inflation entgegenzuwirken. Dazu besteht auch eine ganz wesentliche ordnungspolitische Motivation, die allerdings beinahe in Vergessenheit geraten ist. Um sie betrachten zu können, muss man einen zweiten historischen Spiegel in der Mitte des 14. Jahrhunderts platzieren.

Vor jener Zeit hatte der Gedanke vorgeherrscht, dass jedem Herrscher die in seinem Namen geprägten Münzen letztlich selbst gehörten, auch wenn sie sich in den Händen der Bevölkerung befanden. Daraus leitete man das Recht zu sogenannten Münzverrufungen ab, bei denen ältere Münzen von höherem gegen neue Münzen von geringerem Metallwert eingetauscht werden mussten. Den Umtauschgewinn nutzte man zur Herrschaftsfinanzierung. Die auf diese Weise immer wertloseren Münzen behinderten maßgeblich den Handel, so dass von der Bevölkerung in teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen die Prägung wertstabilen Geldes durchgesetzt wurde. Zum Ausgleich der so entstehenden finanziellen Verluste gestand man den Herrschern die Erhebung von Steuern zu. Diese neue Finanzierungsform setzte sich anfangs nur zögerlich durch, gewann aber zunehmend an Beliebtheit. Die Erhebung von Steuern macht daher politische Überlegungen zur Anhebung der Inflationsrate unzulässig; die beiden Finanzierungsformen schließen sich gegenseitig aus.

Wenn damit einerseits klargestellt ist, dass die strukturellen Probleme der südeuropäischen Staaten eine lange historische Tradition haben und dass andererseits deren Lösung durch eine Anhebung der Inflationsrate, wie sie in jenem Raum gerne praktiziert wurde, keine zulässige oder gar sinnvolle Alternative darstellt, bleibt die Frage nach einem Alternativvorschlag. Einen solchen entdeckt man, wenn man ein drittes Spieglein an der Wand in das 16. Jahrhundert rückt.

Es zeigt dabei ein von Wissenschaft und Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang bislang noch vollkommen unbeachtetes Bild. Damals herrschten im deutschen Raum in vieler Hinsicht mit der Gegenwart vergleichbare Zustände: Dank der Bemühungen von Kaiser und Reichstagen verfügte man de facto über ein gemeinschaftliches Münzwesen; eine Tatsache, die von den nach Souveränität strebenden Territorialfürsten allerdings nach Kräften ignoriert wurde. Dabei standen drei Interessengruppen einander gegenüber: Auf der einen Seite waren unter anderem die rheinischen Kurfürsten an einer Goldwährung interessiert, die dem Handel in ihren Gebieten förderlich war. Auf der anderen Seite befanden sich diejenigen Herrscher, vor allem die sächsischen Kurfürsten, die aufgrund entsprechender eigener Edelmetallvorkommen eine Silberwährung präferierten. Schließlich gab es noch die „Habenichtse“, die generell Schwierigkeiten hatten, an das für eine Münzprägung notwendige Edelmetall zu gelangen und die dementsprechend minderwertige Münzsorten zu prägen beabsichtigten.

Eine der wenigen Gemeinsamkeiten der meisten Fürsten waren dagegen höchst verbesserungswürdige Kenntnisse auf dem Gebiet des Währungswesens. Die Städte verfügten aber über die für solche Spezialfragen notwendigen Fachleute. Das hatte revolutionäre Folgen: Während auf den frühneuzeitlichen Reichstagen üblicherweise zunächst die Kurfürsten und Fürsten die Beschlüsse fassten, denen die Städte in der Folge zuzustimmen hatten, bildete man jetzt zu Beratungen über das Münzwesen gemeinschaftliche Ausschüsse, in denen nicht selten die Fachleute der Städte den Ton angaben. Die althergebrachten Verhältnisse wurden damit auf den Kopf gestellt.

Ähnlich wie man sich im 16. Jahrhundert aufgrund von geldpolitischen Sachzwängen so zu einer tiefgreifenden konstitutionellen Veränderung gezwungen sah, dürfte man im heutigen Europa um vergleichbar einschneidende Maßnahmen nicht herumkommen, wenn die gemeinschaftliche Währung erhalten werden soll. Konkret könnte ein solcher Maßnahmenkatalog folgendermaßen aussehen:

  • Erstens wäre die EZB von den bisher angekauften Staatsanleihen zu entlasten, die in den Euro-Rettungsfonds überführt werden könnten.
  • Zweitens sollte der Rettungsfonds in seiner Laufzeit maximal auf jene der bereits angekauften Staatsanleihen beschränkt werden, um den Staaten des Euroraums keine falschen Anreize für eine unverantwortliche Verschuldung zu bieten.
  • Die Schaffung eines gemeinschaftlichen Sozialversicherungssystems, das die Systeme der einzelnen Staaten überdacht, ergänzt und absichert, könnte drittens ein deutliches Signal an die Marktteilnehmer senden, dass man sich auf einem gemeinschaftlichen Kurs befindet. Diese Maßnahme wäre allein schon deshalb sinnvoll, da die Sozialausgaben zu den höchsten Posten in den Staatshaushalten zählen. Sie würde Griechenland zudem bei der Lösung des fatalen Problems helfen, dass die Überschüsse der dortigen teilweise kapitalgedeckten Renten laut dem Konvergenzbericht des Europäischen Währungsinstituts von 1998 vornehmlich in griechischen Staatspapieren angelegt sind. Zudem würde auf diese Weise die Mobilität der Arbeitnehmer in Europa erleichtert und belohnt.
  • Viertens wäre in Anlehnung an die Ereignisse des 16. Jahrhunderts eine Übertragung einzelstaatlicher Kompetenzen vor allem im Finanzsektor auf gemeinschaftliche europäische Institutionen ratsam. Das bedeutete aber auch, dass weitere politische Macht von den Mitgliedern des Euroraums zentralisiert würde, und es setzte voraus, dass die Bevölkerung der Mitgliedsländer diesen Prozess mitgestalten kann und will. Auf diesem Weg führte die Finanzkrise in ein geeinteres Europa.
  • Anstelle der Schaffung neuer Überwachungsbehörden sollte schließlich fünftens erwogen werden, in den Konvergenzberichten der Europäischen Zentralbank künftig auch wieder die am Euro teilnehmenden Länder zu beurteilen. So würden Abweichungen von den Vorgaben frühzeitig öffentlich bekannt gemacht, wobei die unabhängige Stellung der Zentralbank als Währungswächter erfolgversprechender wäre als das geplante Richten von potentiellen Sündern über aktuelle Sünder.

Ob die Währungsunion eine langfristige Perspektive hat, wird sich also auf dem Krisengipfel im März zeigen. Die derzeitigen Pläne für eine Aufstockung und Perpetuierung des Rettungsfonds sind nicht weitreichend genug und führen teilweise in eine falsche Richtung. Wohin der Weg des Euro und damit auch Europas führt, hängt nun wesentlich von dem Mut und der Gestaltungsbereitschaft der beteiligten Politiker ab. Die nachfolgenden Generationen würden es ihnen sicher zu danken wissen, wenn sie tragfähige Strukturen schüfen, statt die Grundlage zur Anhäufung gigantischer Schuldenberge zu legen und dadurch die Inflation anzuheizen.

 

Dr. Hendrik Mäkeler ist Leiter des Münzkabinetts der Universität Uppsala.

Dipl. oec. Heike Minich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel. Sie promoviert über die Inflationsunterschiede in der europäischen Währungsunion.